Von der Diagnose zur Förderung

Pädagogische Diagnostik stellt einen bedeutenden Bereich pädagogischen Handelns im inklusiven Leseunterricht dar, weil maßgeschneiderte Unterstützung nur durch Informationen und Erkenntnisse über den aktuellen Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler an den Fähigkeiten der Kinder ansetzen kann (Paleczek & Seifert, 2020, 125).

Diagnostik stellt einen Grundpfeiler für den Leseunterricht dar. Für eine gezielte Förderung brauchen Lehrpersonen das Wissen um verschiedene diagnostische Prozesse. Deshalb werden in diesem Beitrag standardisierte Instrumente in den Fokus gerückt und Hinweise insbesondere zum Einsatz solcher Verfahren gegeben.

Basiswissen

Schülerinnen und Schüler weisen unterschiedliche Entwicklungsverläufe im Lesen auf, was zu einer erheblichen Heterogenität in den Lesefähigkeiten innerhalb einer Klasse führt. Diese Vielfalt stellt Lehrpersonen vor erhebliche Herausforderungen bei der Unterrichtsgestaltung. Um eine förderliche Entwicklung der Lesekompetenz begleiten zu können, ist für Lehrpersonen eine frühzeitige Identifizierung der leistungsschwachen Schüler:innen von großer Bedeutung (vgl. Paleczek & Seifert, 2020). Gleichzeitig ist es erforderlich, die Leseentwicklung durchschnittlicher und überdurchschnittlicher Leser:innen entsprechend ihrem individuellen Entwicklungsstand zu fördern.

Eine differenzierte Diagnostik der Lesefähigkeiten berücksichtigt die verschiedenen Teilaspekte der Lesefähigkeiten. Sie bildet die Grundlage (im Sinne einer Statusdiagnostik), um im Anschluss geeignete Fördermaßnahmen abzuleiten und somit den Lernbedürfnissen aller Kinder im Leseunterricht gerecht zu werden. Zusätzlich sollten diagnostische Prozesse im Lernverlauf (im Sinne einer Prozessdiagnostik) wiederholt zur Überprüfung des Erfolgs gesetzter allgemeiner oder spezifischer Maßnahmen und ebenso zur Planung weiterer Maßnahmen eingesetzt werden (Kany & Schöler, 2009; Ingenkamp & Lissmann, 2008; Ziegler & Bühner, 2012).

Vorbereitung und Durchführung

Bei der Vorbereitung und Durchführung müssen mehrere Aspekte berücksichtigt werden. Wir stellen hier grundsätzliche Überlegungen vor, die beim Einsetz diagnostischer Materialien sinnvoll sind. In erster Linie stellt sich die Frage nach der Form:

  • Informelle diagnostische Prozessen (z.B. Beobachtungen, Erfahrungen und Lernkontrollen) führen zu impliziten und subjektiven Einschätzungen und Beurteilungen. Sie werden eher ungezielt, unsystematisch und intuitiv während des Schulalltags eingesetzt.
  • Formelle Diagnostikmethoden sind in der Regel standardisierte Instrumente, die wissenschaftlich erprobt sind und systematisch und gezielt zum Einsatz kommen. Sie dienen demnach einer akkuraten Beurteilung der Leseentwicklung und werden daher in regelmäßigen Abständen empfohlen (Paleczek & Seifert, 2020).

Bei der Auswahl eines standardisierten Testverfahrens sollen folgende Kriterien beachtet werden:

  • Welche Teilaspekte des Lesens werden mit dem jeweiligen Test diagnostiziert? Es ist vor der Durchführung zu prüfen, welches Testverfahren für die Diagnose der spezifischen Fähigkeiten der Schüler:innen am besten geeignet ist.
  • Bei standardisierten Verfahren werden die Leistungen der einzelnen Kinder im Vergleich zu einer Norm interpretiert. Daher sollten nur solche Verfahren verwendet werden, deren Normstichprobe die relevante Altersgruppe enthält.
  • Welche Rahmenbedingungen habe ich für die Durchführung? Bei der Anwendung standardisierter Testverfahren wird zwischen Gruppen- und Einzeltestungen unterschieden. Bei der Überprüfung bestimmter Fähigkeiten, wie beispielsweise dem Leseverständnis, sind Gruppentestungen üblich und liefern aufschlussreiche Ergebnisse. Dennoch eignet sich eine Gruppentestung nicht für alle Lesefähigkeiten.

Die genaue Durchführung hängt letzlich vom jeweiligen standardisierten Testverfahren ab. Die nachfolgende Grafik gibt einen Überblick über wesentliche Schritte vor, während und nach der Testung.

Überblick über wesentliche Schritte vor, während und nach der Testung mit standardisierten Instrumenten (eigene Darstellung: Seifert, 2024; Bild generiert mit der KI playground-AI)

Anhand der summierten und differenzierten Ergebnisse aus informellen und formellen diagnostischen Prozessen können Lehrpersonen adäquate Fördermaßnahmen für einzelne Schüler:innen ableiten.

Assoz. Prof.in Dipl.-Patholing.in Susanne Seifert, Ph.D

Materialien

Die Landschaft der standardisierten Testverfahren ist groß, sodass Sie hier ein paar Möglichkeiten finden, wie Sie zum passenden Diagnosematerial gelangen.

  • Hogrefe Testzentrale bietet einen guten Überblick über käuflich erwerbliche Testverfahren im Bereich von Lesefähigkeiten (Tipp: einfach in das Suchfenster das Wort „Lesen“ eingeben). Über diese Seite können die Tests auch bezogen werden.
  • Kostenfreie Testverfahren zur Erhebung von Lesefähigkeiten gibt es noch nicht viele. Eines der wenigen Verfahren ist der GraLeV (Grazer Leseverständnistest), der als statusdiagnostisches Verfahren für die 3. und 4. Schulstufe normiert ist.
  • Ein prozessdiagnostisches, kostenfreies, digitales Verfahren stellt Levumi als kompetenzorientierte Lernverlaufsdriagnostik bereit. Nach Anmeldung können individuell Tests aus einer großen Testbatterie ausgewählt werden. Hier werden übrigens auch individuelle, digitale Fördermöglichkeiten geboten.
  • Einen Überblick zu den gängigsten lesediagnostischen Verfahren finden Sie auch auf literacy unter Diagnose.
  • Eine Übersicht über verschiedene Verfahren bieten auch Mayer (2022); Schmidt, Schabmann & Hennes (2022), sowie Seifert, Paleczek & Gasteiger-Klicpera (2022) in ihren Kapiteln in einem kostenfrei zugänglichen Handbuch zu sonderpädagogischer Diagnostik unten https://doi.org/10.5283/epub.53149.

Quellen

Ingenkamp, K., & Lissmann, U. (2008). Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik (6. Aufl.). Weinheim: Beltz.

Kany, W., & Schöler, H. (2009). Diagnostik schulischer Lern- und Leistungsschwierigkeiten. Stuttgart: Kohlhammer.

Paleczek, L., Seifert, S., & Gasteiger-Klicpera, B. (2017). Influences on accuracy of teachers‘ judgments of reading abilities in second and third grade students: A multilevel analysis: A multilevel analysis. Psychology in the Schools, 54(3), 228–245. https://doi.org/10.1002/pits.21993.

Paleczek, L. & Seifert, S. (2020). Pädagogische Diagnostik und deren Bedeutung für inklusiven Leseunterricht. In L. Paleczek & S. Seifert (Hrsg.), Inklusive(r) Leseunterricht: Leseentwicklung, Diagnostik und Konzepte (S. 125-147). Wiesbaden: Springer VS.

Ziegler, M., & Bühner, M. (2012). Grundlagen der Psychologischen Diagnostik. Wiesbaden: Springer VS.