Reziprokes Lesen

Im Kontext des Translanguaging-Ansatzes wird die Auffassung vertreten, dass die natürliche Art und Weise der Kommunikation mehrsprachiger Menschen mehrsprachig ist (Gantefort 2019, 14).

Die Methode des Mehrsprachig Reziproken Lesens verknüpft das Prinzip des interaktiven Lernens mit den didaktischen Ressourcen der Mehrsprachigkeit. Schüler/innen sollen in der Interaktion mit Texten alle verfügbaren Sprachen nutzen. Dadurch wird Lesekompetenz auf Basis der Gesamtsprachigkeit gefördert (vgl. BiSS-Trägerkonsortium, 2020, 4).

Basiswissen

Das Verstehen von (Sach-)Texten stellt hohe Anforderungen insbesondere an mehrsprachige Schüler/innen. Die strukturierende und kooperative Methode des Mehrsprachig Reziproken Lesens kann das Leseverstehen unterstützen, da die Zugänge zum Textverständnis geöffnet werden.

Die kooperative Lesestrategie des reziproken Lesens basiert auf der theoretischen Grundannahme, dass der ko-konstruktive Austausch über einen gelesenen Text einerseits und die systematische Anwendung von Lesestrategien andererseits für die Entwicklung einer Kompetenz zum sinnverstehenden Lesen entscheidend sind (Wocken, n.d., 2).

Reziprokes Lesen liegt also dem Konzept zugrunde, dass ein Text gemeinsam abschnittsweise erarbeitet wird. Die kleinschrittige Erarbeitung ist dabei gelenkt und ritualisiert; Schüler/innen nehmen währenddessen bestimmte Rollen ein, die ihre Gespräche durch die systematische Verwendung von Lesestrategien strukturieren. Das Mehrsprachig Reziproke Lesen ist eine Modifikation mit denselben Rahmenbedingungen.

Der Unterschied ist, dass mehrsprachige Schüler/innen bei der Erarbeitung auch auf andere Erstsprachen zurückgreifen dürfen, um Leseverstehen und fachliche Fähigkeiten aufzubauen. Diese Methode ist am Translanguaging-Ansatz orientiert, der es Schüler/innen ermöglicht, ihr gesamtes sprachliches Repertoire zu nutzen (vgl. Gantefort & Sánchez Oroquieta 2015).

Vorbereitung und Durchführung

Wie bei den meisten kooperativen Lesefördermethoden ist die Gruppenzusammensetzung auch beim Mehrsprachig Reziproken Lesen essentiell. Zumindest zwei Gruppenmitglieder sollten eine weitere Sprache teilen, damit diese für die Texterschließung angewendet werden kann. Zur Vorbereitung strukturiert die Lehrperson den zu lesenden Text in Abschnitte und klärt die unterschiedlichen Rollen. Je nach Gruppengröße kann die Rolle A geteilt werden bzw. sollen die Schüler/innen den Textabschnitt leise lesen:

  • A = (Vor-)Lesen und/oder schwierige Wörter/Textstellen klären
  • B = Fragen stellen (zum Inhalt des Abschnittes und weiterführend zum Text)
  • C = Zusammenfassen des bisher gelesenen Textabschnittes
  • D = Vorhersagen (Vermutungen über weitere Textinhalte)

Diese Rollen werden vor dem Lesen zugeteilt und für jeden Textabschnitt wiederholt, jedoch wechselt die Rollenverteilung mit jedem Textabschnitt. So wenden die Schüler/innen interaktiv vier verschiedene Lesestrategien an und können auf Strategien der Erstsprachen zurückgreifen.

Schematische Darstellung der Rollenverteilung.

Materialien

Im Folgenden finden Sie hilfreiche Materialien bzw. Vorlagen für die Durchführung sowohl für die Primarstufe als auch Sekundarstufe.

  • Die Methodenkarte „Reziprokes Lesen" der Initiative #lesen.bayern gibt einen informativen Überblick über die Methode und hält eine Kopiervorlage für die Rollenkärtchen bereit.
  • Das Förderinstrument „Lesehilfen zum mehrsprachigen reziproken Lesen" ist in Form eines Heftes für den Einsatz innerhalb der Methode des Mehrsprachig Reziproken Lesens verfügbar. Es unterstützt das Einüben und Automatisieren verschiedener Lesestrategien. Bisher liegen die "Lesehilfen zum mehrsprachigen reziproken Lesen" ausschließlich bilingual in Deutsch-Türkisch vor.
  • Der „Fragenfächer zum mehrsprachigen reziproken Lesen" bietet in Fächerform Fragewörter in Deutsch und einer weiteren Sprache an und unterstützt die Kleingruppen so bei der Formulierung der Fragen. Aktuell liegt der Fragenfächer bilingual in 19 Sprachen (Arabisch, Baskisch, Bosnisch, Bulgarisch, Chinesisch, Englisch, Farsi, Griechisch, Italienisch, Kroatisch, Kurdisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch, Serbisch, Spanisch, Türkisch und Twi) sowie einsprachig Deutsch vor.
  • Das Lesetraining mit Käpt'n Carlo wurde für Schulkinder der 4. und 5. Jahrgangsstufe entwickelt und untergliedert sich in eine Einführungs- sowie Festigungsphase, in der die Schüler/innen mit den vier Lesestrategien Klären, Fragen, Zusammenfassen und Vorhersagen arbeiten.
  • Tipps und Formulierungshilfen finden Sie im Dokument des Mercator-Institutes: Gantefort, Christoph (2019): (Mehrsprachiges) Reziprokes Lesen. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache.
  • Der Methodenkoffer Lesekompetenz von IQES online bietet bewährte Methoden, wie Schüler/innen von der Primarstufe bis in die Sekundarstufe ihre Lesekompetenz trainieren können. Er zeigt, wie die Lernenden Lesestrategien individuell und kooperativ üben können; darunter auch das Reziproke Lesen.

Quellen

BiSS-Trägerkonsortium (Hrsg.). (2020). Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen. Kooperativ und mehrsprachig Texte verstehen. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Verfügbar unter: https://www.biss-sprachbildung.de/wp-content/uploads/2020/03/BiSS-Broschuere-Leseverstehen-Mehrsprachig.pdf [06.08.2024]

Gantefort, C. (2019). Mehrsprachiges reziprokes Lesen. ZMI-Magazin, Zeitschrift des Zentrums für Mehrsprachigkeit und Integration Köln, Dezember 2019, 14-16. https://zmi-koeln.de/wp-content/uploads/2020/01/zmi-mag_2019_web.pdf

Gantefort, C. & Sánchez Oroquieta, M. J. (2015). Translanguaging-Strategien im Sachunterricht der Primarstufe: Förderung des Leseverstehens auf Basis der Gesamtsprachigkeit. Transfer Forschung Schule, 1 (1), 24–37.

Wocken, H. (n.d.). Reziprokes Lesen. Texte verstehen durch strategisches Lesen und kooperatives Lernen. Verfügbar unter www.hans-wocken.de/Texte/HW-RLesen.pdf [06.08.2024].