Lesen für Anfänger/innen

Kirsten Boie ist eine der erfolgreichsten Kinder- und Jugendautorinnen im deutschen Sprachraum. Ihr neuester Roman spielt in einem Milieu, das nicht alle Kinder aus eigenem Erleben kennen.
Interview: Thomas Aistleitner
Literacy.at: Ich habe mir von den über 100 Büchern, die Sie geschrieben haben, „Gangster müssen clever sein“ ausgesucht. Nicht nur, weil es das Neueste ist. Aber auch, weil es eine Milieustudie ist, die man selten in Kinderbüchern findet.
Kirsten Boie: Ja, es geht um Kinder, die wenig Geld haben, in einem Haus wohnen, in dem der Fahrstuhl nicht funktioniert, und um eine Mutter mit einem Alkoholproblem. Ich finde es ganz wichtig, dass die Kinder, die später einmal in unserer Gesellschaft am Ruder sein werden, solche Geschichten lesen. Denn in ihrem Leben haben sie mit solchen Kindern wie in „Gangster müssen clever sein“ meistens nicht sehr viel zu tun.
Wachsen die Kinder der Gebildeten unter sich auf?
Ja, in den deutschen Städten sind die Stadtteile sozial unterschiedlich. Wenn sich Jugendliche für einen Job oder eine Schule bewerben, sagt bereits ihre Wohnadresse etwas über ihre Chancen. Chancen haben die bildungsbürgerlichen Mittelschichtkinder. Sie werden, wenn sie erwachsen sind, dann auch in Positionen sein, in denen sie Entscheidungen auch für den Rest der Gesellschaft treffen. Dabei haben sie oft wenig Vorstellungen, wie der Rest der Gesellschaft lebt. „Gangster müssen clever sein“ erzählt davon.
Von Ihnen stammt der Satz „Literatur für Kinder muss auf jeden Fall auch Literatur sein.“ In diesem Buch kommen schon auf der ersten Seite fünf Personen vor, und bis zum ersten Showdown dauert es einige Seiten. Erwarten Sie von Ihren Leserinnen und Lesern ein gewisses Durchhaltevermögen?
Ich schreibe für alle Altersgruppen, aber auf unterschiedliche Arten. Jedes Kind muss seinen eigenen Zugang zum Lesen finden. Es beginnt mit den sogenannten Erstlesebüchern. Eltern kaufen sie ihren Kindern, die noch nicht gut lesen können und es manchmal auch nicht wollen. Solche Bücher müssen sehr eng getaktet sein, die Sätze müssen kurz sein. „Gangster müssen clever sein“ sehe ich dagegen für Kinder ab neun Jahren, die gerne lesen und mehr über das Zusammenleben von Menschen und soziale Verhältnisse erfahren wollen.
Da stellt sich die Frage: Wie viele Kinder in diesem Alter lesen überhaupt noch gerne und lassen sich auf ein Buch ein?
Ich glaube, mit neun, zehn Jahren gibt es noch einige, die gerne und viel lesen. Danach beginnt sich das allerdings leider zu ändern.
Kinder wachsen heute mit verschiedenen Medien auf. Kann man sie da mit Büchern überhaupt noch erreichen?
Für Kinder, die bis zum Schuleintritt nur mit audiovisuellen und elektronischen Medien in Kontakt kamen, ist es sehr viel schwieriger, danach noch zu begeisterten Leser/innen zu werden. Der Umgang mit diesen Medien ist viel einfacher als das mühsame Erlernen einer Lesefertigkeit, die so ausgeprägt ist, dass das Lesen dann auch Spaß machen kann. Das erfordert eher Jahre als Monate und zu Anfang ist eine enorm hohe Frustrationstoleranz nötig. Zudem: Für Kinder, die nicht daran gewöhnt sind, selbst innere Bilder und Gefühle zu entwickeln, wenn sie nur Text ohne Bilder vor sich haben, ist auch das schwierig. Sie brauchen einfachere Texte, gerne mit einem hohen Grad an äußerer Spannung.
Zu den Versuchen, Kinder als Leser/innen zu erreichen, gehören die sogenannten „Gender-Ecken“ in den Buchhandlungen. Sollen Mädchen rosa Bücher lesen und Buben blaue? Heiligt der Zweck auch diese Mittel?
Ich halte diese Strategien für verfehlt und überflüssig. Zunächst wäre mir wichtig, dass Kinder überhaupt lesen. Aber wenn der Einstieg ein pinkes Buch mit Glitzer ist, so ist das immerhin ein Einstieg und vielleicht ist das nächste Buch schon eins, das nicht mehr glitzert. Ich bin nicht dogmatisch, aber ich sehe, dass wir uns da in Richtung 1950er-Jahre zurückbewegen, als Mädchen Mädchenbücher zu lesen hatten. Das habe ich selbst erlebt und das war trostlos. Andererseits verstehe ich die verzweifelten Bemühungen, Buben zum Lesen zu bringen. Dafür muss ein Buch aber nicht in einer Reihe erscheinen, die „Nur für Jungs“ heißt.