Grundlagen

Nur wer die Lust an Texten und an dem, was sie erzählen oder aufzeigen, schon empfunden hat, wird weitere, zunächst vielleicht mühevollere Schritte tun wollen und damit seine Lesekompetenz ausbauen (Bertschi-Kaufmann & Lindauer, 2005, 7).
Lesen ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die das Lernen maßgeblich beeinflusst. Ohne ausreichende Lesekompetenz können Schüler:innen den Anforderungen in der Schule nicht gerecht werden. Dementsprechend trägt eine gezielte Leseförderung zur Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit bei.
Rund um das Lesen kusieren vielfältige Begrifflichkeiten, die alles andere als eindeutig sind. Deshalb soll an dieser Stelle eine Abgrenzung zwischen den Begriffen Leseverständnis, Lesekompetenz und Literalität dargelegt werden (vgl. Lenhard 2019, 46f).
Leseverständnis umfasst die Fähigkeit und den Prozess, schriftlich fixierte Bedeutungsinhalte zu rekonstruieren. Dies betrifft sowohl die hierarchieniederen als auch hierarchiehöheren Teilprozesse beim Lesen.
Lesekompetenz ist - wie der Kompetenzbegriff selbst - sehr vielschichtig definiert. Dies versucht Lenhard zusammenzufassen und schlägt eine enge und eine weite Definition vor:
- So bedeutet Lesekompetenz in einer engen Definition eine tatsächlich erbrachte Leseverständnisleistung unter Einbezug motivationaler (Leistungsbereitschaft, Selbstkonzept...) sowie emotionaler (Lernfreude, Interesse, Ängstlichkeit...) Aspekte (ebda., 47f).
- Der weite Lesekompetenzbegriff ist situationsabhängig und schließt auch die Interaktion des Individuums mit dem Text (Interpretation und Selbstrefelexion) sowie die kulturelle Praxis (Austausch über Textinhalt und -interpretation in einem sozialen Gefüge) ein (ebda., 48f).
Literalität (literacy) umfasst neben der individuellen und sozialen Ebene auch kulturelle und historische Aspekte:
Das bedeutet, dass zu Literalität all jene schriftbezogenen Fähigkeiten und Tätigkeiten dazugehören, die für die reale Lebensbewältigung und Teilhabe am kulturellen Leben notwendig sind (ebda., 49).
Damit Leseförderung zu einer Verbesserung der Leseleistungen führt, gibt es verschiedene didaktische Konzepte, die im Folgenden näher erläutert werden.
Leseverständnis und Lesekompetenz
Das Mehrebenenmodell des Lesens
Eines der bedeutendsten Konzepte haben Rosebrock und Nix (2008) mit ihrem „Mehrebenenmodell des Lesens“ etabliert. Sie setzen in ihren „Grundlagen der Lesedidaktik“ auf eine systematische Leseförderung, die die Lesekompetenz aus einer didaktischen Perspektive betrachtet (vgl. Rosebrock & Nix 2020, 11). Ihr Lesekompetenzbegriff schließt sowohl den sozialisationsbedingten Erwerbsverlauf der Schüler:innen ein (Sozialisationsprozess) als auch die Frage nach dem schulischen Entwicklungsverlauf: Welche Fähigkeiten des Lesens treten wie und wann schulisch in Erscheinung? (Vgl. Rosebrock 2012, 4)
Wenn man sich vor Augen hält, dass der Lesevorgang nicht eine einzige Leistung in einer einzigen mentalen Dimension fordert, sondern ganz im Gegenteil ein ganzes Bündel von unterschiedlichen Teilfähigkeiten umfasst, und wenn man weiter die pädagogische Erfahrung ernst nimmt, dass Menschen ihre ganze Schulzeit und noch mehr brauchen, um in Literalität hinein zu wachsen und im engen Zusammenhang mit ihren sonstigen intellektuellen Fähigkeiten auch ihre Lesekompetenz zu entwickeln, wenn man das also vergegenwärtigt, dann braucht es m.E. drei Perspektiven auf die Frage, wie die Leseentwicklung wirkungsvoll zu unterstützen ist (Rosebrock 2012, 4).
Dieses Verständnis von Lesekompetenz erfasst zusätzlich den Lernprozess der Leseleistungen, wodurch Leseprobleme differenziert unterstützt und gefördert werden können (vgl. Rosebrock & Nix 2020, 11). Davon ausgehend haben Rosebrock & Nix das Mehrebenenmodell des Lesens entworfen, das die Teilkomponenten von Lesekompetenz auf drei verschiedenen Ebenen abbildet (vgl. ebd.):
- die kognitiven Prozessleistungen des Lesens (Prozessebene),
- die Persönlichkeit der Lesenden (Subjektebene) sowie
- deren Umfeld (soziale Ebene).
Auf der Prozessebene siedeln sich die fünf Anforderungsdimensionen des konkreten Leseprozesses an – von den hierarchieniedrigeren zu den hierarchiehöheren kognitiven Leistungen (vgl. ebd, 17-20). Die Subjektebene ist ein Bündel aus subjektivem Weltwissen, innerer Beteiligung, Motivation und Reflexion, die das Selbstkonzept als Leser:in oder Nichtleser:in mitbestimmt (vgl. ebd, 20f). Die soziale Ebene berücksichtigt, dass Lesen in sozialer Interaktion eingebunden ist, die die Lesefähigkeit und Leseneigung beeinflusst (vgl. ebd, 22f).
Das Mehrebenenmodell des Lesens ermöglicht den Blick auf die unterschiedlichen Dimensionen, die beim Lesen eine Rolle spielen. In seinem Fachvortrag bei der Sprachen-im-Blick-Veranstaltung 2023 stellte Daniel Nix dazu folgende Fragen:
- Können die Schüler:innen einfache Texte flüssig lesen? (Wort- und Satzidentifikation, lokale Kohärenz)
- Verstehen die Schüler:innen den Sinn des Gelesenen? (globale Kohärenz, Superstrukturen erkennen)
- Können die Schüler:innen einen Text einordnen? (Darstellungsstrategien, Wissen)
- Haben die Schüler:innen Spaß am Lesen, halten sie sich für Leser:innen? (Subjektebene)
- Können Schüler:innen am lesekulturellen Leben partizipieren? (soziale Ebene)
Wichtig ist, dass der richtige Förderbedarf identifiziert wird, weshalb eine pädagogische Diagnostik vor den Fördermaßnahmen als Grundlage gesehen werden muss. Einen Überblick zu gängigen Diagnoseinstrumenten erhalten Sie hier. Je nachdem auf welchen Ebenen Förderbedarf besteht, erscheinen differenzierte Fördermaßnahmen sinnvoll:
- Für die hierarchieniedrigen Leseprozesse, wie Wort- und Satzidentifikation sowie lokale Kohärenz, eignen sich Lautleseverfahren, da sie die Leseflüssigkeit direkt trainieren.
- Die hierarchiehohen Leseprozesse wie Verstehensanforderungen der lokalen und globalen Kohärenz können durch gezieltes Training von Lesestrategien unterstützt werden.
- Eine Stufe höher ist die Unterstützung der Sachtextlektüre, da diese sowohl globale Kohärenz, das Erkennen von Superstrukturen sowie domänenspezifisches Wissen verlangen und die Grundlage für schulisches Lernen sind.
- Zur Förderung des Leseselbstkonzepts von Schüler:innen eignen sich Vielleseverfahren. Ziel dabei ist es, möglichst viel Stoff zugänglich zu machen, damit Schüler:innen eine positive Lesehaltung entwickeln. Darunter fallen auch Maßnahmen der Leseanimation, die allerdings nicht nur auf der Subjektebene bleiben, sondern auch auf die soziale Ebene wirken.
- Für die hierarchiehohen und -höchsten Leseprozesse, wie das Erkennen von Superstrukturen und Identifizieren von Darstellungsstrategien, eignet sich literarisches Lernen, sofern der Literaturunterricht auf einer lesedidaktischen Grundlage basiert.
So kann Leseförderung gezielt in der Schule eingesetzt werden. Weitere Fördermaßnahmen finden Sie hier.
Das Situationsmodell
Das Situationsmodell (nach van Dijk & Kintsch, 1983) beschreibt den Prozess des Leseverstehens. Es basiert auf der These, dass Textverstehen eine aktive Rekonstruktionsleistung ist, die auch Vor- und Weltwissen sowie Schlussfolgerungen integriert. Insofern ist Textverständnis mehr als die im Text explizit genannten Informationen. Lesende machen sich demnach ein Bild des gelesenen Textes, das deutlich differenzierter und umfassender ist als die im Text benannten Informationen (vgl. Lenhard, 2019: 21f).
Lenhard (2019) greift dieses Modell auf und etabliert eine Graphik des Situationsmodells, in der die zahlreichen Teilprozesse im Leseverständnis und der Zusammenhang zwischen Leseverständnis und sprachlichen Fertigkeiten dargestellt sind. Diese Sichtweise ist vor allem für Schüler:innen, die von einem erhöhten Risiko für schwache Leseverständnisleistungen betroffen sind, relevant (vgl. ebda, 14).
Wie in gängigen Lesekompetenzmodellen gliedern sich die wesentlichen Prozesse des Lesens in hierarchieniedere und hierarchiehohe Verarbeitungsprozesse:
- Zu den niedrigeren Prozessen gehören die Wortidentifikation und -erkennung, die in Rekodieren und Dekodieren unterteilt werden, sowie die lokale Kohärenzbildung und die syntaktische Analyse.
- Höhere Prozesse beinhalten den Einsatz von Vorwissen und Textformatwissen, Selbstregulation, die Bildung einer globalen Kohärenz und das Ziehen von Inferenzen. Dabei können die einzelnen involvierten Teilprozesse, die zum Textverständnis führen, nicht unabhängig von allgemeinen kognitiven Voraussetzungen für die Verarbeitung von Sprache (z.B. Vorwissen und Sprachverständnis) betrachtet werden. Daher bilden sie in der Graphik die Basis.
Zudem erscheint in diesem Modell zentral, dass viele Prozesse nicht getrennt nacheinander ablaufen sondern parallel. Das Situationsmodell ist die mentale Repräsentation während des Lesens, das die relevanten Informationen und Ereignisse des Textes repräsentiert. Dies betrifft nicht nur die expliziten, im Text stehenden Informationen, sondern auch das, was implizit angenommen oder interpretiert wird (vgl. ebda, 14f.).
Quellen
Bertschi-Kaufmann, A. & Lindauer, T. (2005). Leseförderung in der Schule. Nachlese zur Tagung vom 5. April 2005 in Brig-Glis. Mitteilungsblatt Oberwallis, 132, 6–8.
Lenhard, W. (2019). Leseverständnis und Lesekompetenz. Grundlagen - Diagnostik - Förderung. Stuttgard: Kohlhammer.
Rosebrock, C. & Nix, D. (2020). Grundlagen der Lesedidaktik. Und der systematischen schulischen Leseförderung (9. Aufl.). Schneider Hohengehren.
Rosebrock, C. (2012). Was ist Lesekompetenz, und wie kann sie gefördert werden? Abrufbar unter: https://www.leseforum.ch/myUploadData/files/2012_3_Rosebrock.pdf