Lesen in der Fremdsprache

Der Geist einer Sprache offenbart sich am deutlichsten in ihren unübersetzbaren Worten. (Marie von Ebner-Eschenbach)

In einer globalisierten Welt, in der Fremdsprachenkenntnisse generell eine zentrale Rolle spielen, ist auch die Fähigkeit, Texte in der Fremdsprache fließend lesen und verstehen zu können, eine entscheidende Kompetenz sowohl für die persönliche Entwicklung als auch die erfolgreiche Bildungslaufbahn der Schüler/innen.

Das Lesen in der Fremdsprache wird jedoch durch verschiedene Faktoren beeinflusst, die sich wesentlich von den ersten Leseerfahrungen in der Erst- bzw. Zweitsprache unterscheiden. Wenn Kinder mit dem Lesen in der Erstsprache beginnen, verfügen sie im Durchschnitt bereits über einen Wortschatz von ca. 6.000 Wörtern sowie über implizite Grammatik und spezifisches (auch kulturelles) Wissen aus ihrer Erst-/bzw. Zweitsprache.

Im Unterschied dazu beginnt das Lesen in der Fremdsprache gleichzeitig mit dem Sprechen und dem aktiven Erwerb von Vokabeln, grammatischen Strukturen und Regeln, was das Lesen und die verschiedenen Leseprozesse (z.B. die Worterkennung) beeinflusst. Lernende müssen parallel zum Erwerb der sprachspezifischen Graphem-Phonem-Korrespondenzen z.B. auch den Umgang mit unbekannten Wörtern üben oder die Problematik direkter bzw. wörtlicher Übersetzungen verstehen (vgl. Grabe & Stoller 2020, 37f).

Um Leseverständnis aufzubauen, müssen Leser/innen über grapho-phonologisches, syntaktisches, semantisches und kontextuelles Wissen verfügen (vgl. Biebricher 2008, 9). Dieses spezifische Wissen in der Erstsprache kann beim Lesen in der Fremdsprache hilfreich sein, ist aber bei negativem ‚Transfer‘ hinderlich. Ist der Leseprozess selbst langsam und mühevoll, wird auch das Fremdsprachenlernen eingeschränkt. Ein effektiver Fremdsprachenunterricht sollte deshalb auch eine breit gedachte Leseförderung durch kompetenzbasiertes Training der Lesefertigkeit der Schüler/innen integrieren.

Sprachliche Unterschiede, die sich auf das Lesen auswirken, können die Schrift, das Sprachsystem, kulturelles Wissen und zuweilen auch kontrastierende Textsorten betreffen. Die Voraussetzungen für das Lesen in der Fremdsprache sind also gänzlich andere als für das Lesen in der Erstsprache (vgl. Grabe & Stoller 2020, 39).

Worauf sollen Lehrpersonen bei der Leseförderung im Fremdsprachenunterricht achten?

  • Schüler/innen sollten die Graphem-Phonem-Korrespondenzen automatisieren, d.h. sie müssen anhand des Schriftbildes den Laut automatisch richtige aussprechen.
  • Lehrpersonen sollten auch größere Einheiten (z.B. Morpheme) einführen und nutzen; Vor- und Nachsilben bzw. Wortstämme können so als Schreibmuster wahrgenommen und verinnerlicht werden.
  • Schüler/innen sollten häufige Wörter als Ganzwörter üben, d.h. sie speichern das Wortbild dieser Wörter als Ganzes.
  • Lehrpersonen sollten Lesestrategien einführen und trainieren.

Dadurch eignen sich Schüler/innen das spezifische Schriftbild einer Fremdsprache an, was das Abspeichern und den Abruf im Leseprozess erleichtert (vgl. Rindlisbacher 2021, 319). Ist dieses sprachspezifische lexikalische Wissen aufgebaut, können Methoden der Leseförderung eingesetzt werden, wie sie für Deutsch üblich und bewährt sind.

Exemplarische Methoden

  • globales Lesen: Hierbei sollen sich die Schüler/innen einen Überblick des Textes verschaffen. Sie erkennen die Struktur und können das Thema identifizieren.
  • selektives Lesen: Schüler/innen lesen auf ein bestimmtes Ziel hin (gezieltes Herausfiltern von spezifischen Informationen aus einem Text).
  • intensives Lesen: Hierbei geht es darum, dass Schüler/innen relevante Textdetails erkennen und verstehen. Sie sollen sich durch eine genaue Lektüre intensiv mit dem Thema bzw. der Handlung des Textes auseinandersetzten.
  • extensives Lesen: Die Lehrperson stellt ein vielfältiges Angebot interessanter Texte zur Verfügung, aus dem die Schüler/innen frei wählen können. Der Aufbau der Texte sollte nicht komplex sein. 
  • Graded readers bieten sich für Schüler/innen an, da sie an ein entsprechendes Niveau angepasst und gut bewältigbar sind.
  • PQ4R-Methode: Preview (Vorschau), Questions (Fragen), Read (Lesen), Reflect (Nachdenken), Recite (Wiedergeben), Review (Rückblick)
  • Umgang mit unbekannten Wörtern: Es kann für ein möglichst umfassendes Verstehen nützlich sein, unbekannte Wörter und Wortgruppen (chunks) zu unterstreichen, Fragezeichen neben unverständlichen Absätzen zu setzen (oder andere Zeichen für andere Bedeutungen) oder auch eigene Überschriften für Absätze zu erfinden.

Eine detaillierte Zusammenstellung an Möglichkeiten für den Einbau von Leseförderung in den Fremdsprachenunterricht, insb. für den Englischunterricht in der Sekundarstufe finden Sie in der Broschüre "Enhancing English Reading Skills". Aufbauend auf der individuellen Kompetenzmessung PLUS (iKMPLUS) werden innovative Ansätze und Methoden zur gezielten Verbesserung der Leseflüssigkeit und des Text-verständnisses vorgestellt. Lehrkräfte erhalten wertvolle Tipps und konkrete Unterrichtsbeispiele, die sowohl die traditionelle als auch die digitale Leseförderung umfassen. Die Broschüre richtet sich an Lehrkräfte, die ihren Unterricht zeitgemäß und evidenzbasiert gestalten möchten, um die Lesekompetenz ihrer Schülerinnen und Schüler nachhaltig zu stärken.

Material

MORPHEUS-ENGLISCH ist ein morphematisches Wortschatz- und Vokabeltrainingsprogramm für Englisch als Fremdsprache mit dem Fokus auf der englischen Orthografie. Es wurde für die 6. und 7. Klassenstufe konzipiert, kann aber insbesondere bei Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten auch noch in der 8. oder 9. Klassenstufe eingesetzt werden. Das Trainingsprogramm besteht aus einem PC-Programm, einem Übungsbuch und drei Spielkartensätzen (Signalgruppen, Vor- und Nachsilben, irreguläre Verben).

Das wordly Lesetraining ist für Schüler/innen mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten konzipiert. Es kann allerdings zur generellen Leseförderung eingesetzt werden, da insbesondere die Leseflüssigkeit sowie das Leseverstehen trainiert werden. Wordly ist in Module eingeteilt, die individuell auf die Schüler/innen abgestimmt werden können. Das Konzept richtet sich primär an Schüler/innen ab der 5. Schulstufe.

Die Methodenkarte „Methode zum Lesen fremdsprachlicher Texte" der Initiative #lesen.bayern gibt einen schnellen Überblick zu strategischen Tipps, wie Schüler/innen mehr Textsicherheit beim Lesen fremdsprachlicher Texte erlangen können.

Quellen

  • Biebricher, C. (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Narr.
  • Grabe, W. & Stoller, F. L. (2020). Teaching and researching reading. (3. Auflage). Routledge.
  • Rindlisbacher, B. (2021). Lesen in der Fremdsprache Französisch. Kompetenzen von Drittklässlerinnen und Drittklässlern mit unterschiedlichen Schrift- und Sprachfähigkeiten in der Erstsprache Deutsch. Waxmann.